Eckhard Müller (Berlin)
Neue Forschungsergebnisse anhand der Bände 6 und 7 in zwei Halbbänden der „Gesammelten Werke“ von Rosa Luxemburg
Veranstaltung zum 100. Jahrestag der Ermordung von Rosa Luxemburg und in Memoriam Annelies Laschitza am 9. Januar 2019 in SAPMO-BArch, Berlin-Lichterfelde
Sehr geehrte Damen und Herren,
wenn ein Mensch verstorben ist, den man lange Zeit gut kannte, so
vermischt sich die Trauer mit der Erinnerung, was man ihm zu
verdanken hat.
Annelies Laschitza gab ihrer großen Rosa-Luxemburg-Biographie den
Untertitel: „Im Lebensrausch, trotz alledem“, man könnte auch sagen
Kämpfen heißt Leben, das war ihre Maxime. Sie hat sich bei allen
Widrigkeiten vor und nach 1989 nicht verbogen. Sie hat Bleibendes
geschaffen.
In einem Interview mit „Stuttgarter Zeitung“ erklärte Annelies Laschitza,
weltweit anerkannte Biographin und Editorin von Rosa Luxemburg: „ Seit
ich mich mit Rosa Luxemburg beschäftige, verließ mich kaum einmal die
Spannung, mit der ich in das Leben, die Ansichten, das politische
Verhalten und die unterschiedliche Wirkung dieser leidenschaftlichen
Sozialistin eindrang. Wahrlich, ich konnte mit Rosa Luxemburg viel
erleben und einiges bewerkstelligen… Bis 1989 lebte ich allerdings mit
dem Widerspruch, einerseits in einem Institut der SED maßgeblich an
der Edition der umfassendsten und international geachteten
Werkausgabe und der vollständigen Ausgabe der Briefe Rosa
Luxemburgs beteiligt zu sein, andererseits aber beobachten zu müssen
und nicht verhindern zu können, dass von den Führungskräften der SED
zu wenig, zunehmend fast gar nichts getan wurde, das Erbe Rosa
Luxemburgs zu popularisieren, dass vor allem nicht dafür gesorgt wurde,
dass ihre kritischen und weitsichtigen Warnungen vor terroristischen
Verbrechen und unmenschlichen Einschränkungen der Demokratie im
Sozialismus ernst genommen und beherzigt werden.“
In ihren profunden Vorworten zu den Bänden 6 und 7 in zwei
Halbbänden ist ihre Spannung in jeder Zeile zu spüren. Diese
Leidenschaft war ansteckend und anspornend für mich in unserer
Editionsarbeit von 2010 bis 2017 zur Komplettierung der Werkausgabe
Rosa Luxemburgs. Mit großer Dankbarkeit blicke auf unsere
Zusammenarbeit zurück.
Oft wurden wir mit der Frage konfrontiert: Wieso gibt es noch so viele
unveröffentlichte Arbeiten Rosa Luxemburg? Von 1970 bis 1975 waren
fünf Bände herausgekommen, die ihre wichtigsten deutschsprachigen
Schriften, darunter „Sozialreform oder Revolution“, „Organisationsfragen
der russischen Sozialdemokratie“ und „Zur russischen Revolution“,
enthielten. An Band 5 mit Rosa Luxemburgs ökonomischen Arbeiten
„Die Akkumulation des Kapitals“, „Die Antikritik“ und „Einführung in die
Nationalökonomie“ war ich direkt als Bearbeiter beteiligt.
In fünf Bänden war jedoch nicht das gesamte Schriftgut Rosa
Luxemburgs unterzubringen. Fünf Bände, das war die offiziell
beschlossene Maßgabe. Rosa Luxemburg sollte nach dem Willen der
Parteiführung der SED nicht wie die Klassiker Marx, Engels und Lenin
behandelt werden. So musste auf die Aufnahme
von Vorarbeiten bzw. Entwürfen zu ihren Schriften in Gestalt von
handschriftlichen Notizen verzichtet werden. Anonym erschienene oder
nur mit Zeichen von ihr versehene Presseartikel sollten nur abgedruckt
werden, wenn sie eindeutig belegt autorisiert werden konnten.
Angesichts des auf 5 Bände begrenzten Umfangs konnten nicht
sämtliche in den verschiedenen sozialdemokratischen Presseorganen
zum gleichen Thema veröffentlichte Artikel und ebenso sollten nicht allzu
viele Zeitungsberichte über Versammlungen, weil sie die Handschrift
anderer trügen, gebracht werden. So gut wie generell wurden
Polizeiberichte über ihre Reden und Auftritte nicht aufgenommen. Mit
dieser Praxis haben wir mit den Bänden 6 und 7 gebrochen. Es wäre
sonst von den politischen Aktivitäten Rosa Luxemburg vieles verborgen
geblieben.
Die intensive Auswertung der Tausende von Briefen Rosa Luxemburgs,
die in der sechsbändigen Briefedition von 1982-1993 in der
Herausgeberschaft von Annelies Laschitza vorliegen, und Briefe Dritter
ermöglichten es uns, weitere Artikel und Reden zu autorisieren. In
Spezialstudien von Feliks Tych, Narihiko Ito, Erhard Hexelschneider,
Georg Adler , Günter Hauthal, Erna Herbig , Hartmut Henicke, Klaus
Kinner, Harald Koth, Ottokar Luban, Roswitha Mende, Ulla Plener,
Holger Politt und Bernd Florath sowie in regionalen Publikationen waren
Spuren zu ungezeichneten Artikeln und Versammlungsauftritten Rosa
Luxemburgs gelegt, die wir intensiv weiter verfolgt haben.
Die Durchsicht von einschlägigen Bibliographien, Spezialinventaren und
Recherchen in Archiven und Bibliotheken ergab Neuentdeckungen, so
z.B. in den Kreisarchiven Zwickau und des Vogtlandkreises. In der
Bibliothek des Deutschen Historischen Museums in Berlin entdeckten wir
die Kopie der handschriftlichen Fahnenkorrektur aus dem Jahre 1931 für
einen Band der geplanten Werkausgabe aus den 20er Jahren. Dieser
Band sollte den Titel „Nationale Kämpfe“ tragen. Er fiel dem Verdikt
Stalins zum „Luxemburgismus“ anheim.
Wir konnten für beide Bände eine Menge neuer Dokumente ausfindig
machen, die über bisherige Bibliographien, eigene Entdeckungen und
Hinweise in Publikationen anderer Kollegen hinausgehen. Neu sind z.B.
über 50 Referate bzw. Reden Rosa Luxemburgs über Weltpolitik, über
Sozialreform und Sozialdemokratie, als Wahlkämpferin zu den
Reichstagswahlen 1903, 1907 und 1912, zum preußischen
Wahlrechtskampf 1910, zum Protest gegen ihre Verurteilung wegen ihrer
antimilitaristischen Auffassungen 1914. Rosa Luxemburg griff z.B. um
den Doppelcharakter und die widersprüchliche Wirkung von
Sozialreformgesetzen zu verdeutlichen, zu drastischen
einprägsamen Vergleichen von Arbeiterschutz- und Jagdgesetzen.
Von 2010 bis 2017 arbeiteten Annelies Laschitza und ich an der Edition
aller nicht oder nur teilweise veröffentlichten deutschsprachigen Texte
Rosa Luxemburgs. Band 6, der die Zeit von 1893 bis 1906 umfasst, ist
2014 erschienen und hat 990 Seiten, Band 7 in zwei Halbbänden, der
sich auf die Jahre 1907 bis 1918 erstreckt, umfasst 1233 Seiten und ist
2017 herausgekommen. Beide Bände sind mit einem annotierten
Personenregister und geographischen Register ausgestattet, sie sind
aber in ihrer Struktur völlig unterschiedlich.
Bei unseren Recherchen stießen wir auch auf Zeugnisse darüber, dass
die junge Rosa Luxemburg bereits von den deutschen
Polizeibehörden beobachtet wurde, als sie noch in der Schweiz lebte.
Umso intensiver war die Überwachung nach ihrer Übersiedelung nach
Deutschland ab 1898. Wir fanden Mitschriften von
Überwachungsbeamten der Polizei oder anderer staatlicher bzw.
städtischer Behörden über Versammlungsauftritte von Rosa Luxemburg
u.a. in Hamburg, Berlin, Kolmar/Provinz Posen, Glauchau und Adorf, die
in den Band aufgenommen worden sind. Insgesamt sind in die Bände 6,
7/1 und 7/2 dreißig Polizeiberichte, davon sechs Berichte von
Polizeispitzeln, sowie zwei Protokolle über richterliche Vernehmungen
Rosa Luxemburgs während des ersten Weltkrieges und eine
Verbotsverfügung des Kommandierenden Generals des VII.
Armeekorps in Münster als Quellentexte bzw. Sachinformationen in die
Anmerkungen enthalten. Im Band 6 ist das Referat Rosa Luxemburgs:
„Der politische Massenstreik“ am 14. November 1905 im zweiten
Hamburger Wahlkreis sowohl nach dem Bericht des „Hamburger Echos“
als auch nach dem handschriftlichen Polizeibericht abgedruckt. Der
Vergleich zeigt, dass der Bericht der politischen Polizei Hamburgs im
Staatsarchiv Hamburg ausführlicher und prägnanter die Ausführungen
Rosa Luxemburgs wiedergibt.
Erstmals wird im Band 6 nach dem französischen Protokoll die Rede
Rosa Luxemburgs auf dem Internationalen Sozialistenkongress in Paris
1900, abgedruckt. Sie ist länger und präziser als ihre Ansprache nach
dem deutschen Kongressprotokoll. Anknüpfend an ihre Aussagen auf
dem Sozialistenkongress in Paris warnte sie in einer Rede im
Hamburger Wahlkreis Eimsbüttel am 13. Dezember 1900 über
„Weltpolitik und Sozialdemokratie“ erstmals vor einem Weltkrieg. „Heute
sucht Deutschland in der ganzen Welt alle möglichen und nur
unmöglichen Plätze unter der Sonne zu erobern. Wenn heute am
Schlusse des Chinakrieges noch keine endgültige Aufteilung Chinas
eingetreten ist, so ist der Grund darin zu sehen, dass einer der
beteiligten Mächte der Erste sein will, diesen Raub zu vollziehen, denn
ein unabsehbarer Weltkrieg könnte hieraus entbrennen.“
Ebenfalls neu enthalten in Band 6 ist ihre Verteidigungsrede vor dem
Landgericht in Zwickau 1904 wegen Majestätsbeleidigung.
Aufschlussreich ist es, wie aus Akten im Sächsischen Hauptstaatsarchiv
Dresden hervorgeht, dass der Prozess gegen Rosa Luxemburg 1904
wegen angeblicher Majestätsbeleidigung von Wilhelm II. erst auf Druck
des sächsischen Ministeriums des Innern und auf Anweisung des
sächsischen Justizministeriums von der Staatsanwaltschaft beim
Landgericht Zwickau angestrengt wurde. Im Dezember 1906 verurteilte
das Landgericht Weimar Rosa Luxemburg wegen angeblicher
„Aufreizung zu Gewalttätigkeiten“ in ihrer Rede zur Revolution in
Russland auf dem Jenaer Parteitag 1905 zu zwei Monaten Gefängnis.
Ihre Ausführungen zu ihrer Verteidigung unter dem Titel „Der
Massenstreik vor Gericht“ wurden im „Vorwärts“ ausführlicher und
anders wiedergegeben als in der „Leipziger Volkszeitung“ und deshalb in
den Band 6 aufgenommen. Er enthält ebenfalls Beiträge Rosa
Luxemburgs über den historischen Werdegang und die aktuellen
Probleme in der Entwicklung der polnischen Arbeiterbewegung. Um
die Differenzen zwischen dem Parteivorstand der SPD und
der Parteileitung der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS) beilegen
zu können, legte sie Leitsätze für die polnischen Sozialisten in
Deutschland vor. Grundlage für die Leitsätze war das Erfurter Programm
der deutschen Sozialdemokratie von 1891.
Autorisierungsfragen beschäftigten uns sehr intensiv. Mehrmals haben
wir die Briefbände Rosa Luxemburg und Briefe Dritter nach Hinweisen
zu Aufsätzen und Versammlungen durchforstet. Da Rosa Luxemburg
illegal oder halbillegal tätig war, wurden viele Artikel von ihr anonym oder
unter verschiedenen Pseudonymen gedruckt. In jedem Fall haben wir die
Aufnahme anonymer bzw. ungezeichneter Artikel Rosa Luxemburgs
begründet. Die Autorschaft wurde belegt mit der Rosa-Luxemburg-
Bibliographie von Feliks Tych aus dem Jahre 1962, mit konkreten
Briefstellen der sechsbändigen Briefausgabe und mit Briefen und
Berichten Dritter. Als sie bei den Redaktionen der Zeitungen wie Sprawa
Robotnicza (1893-96), der „Sächsischen Arbeiter-Zeitung“ (1898), der
„Leipziger Volkszeitung“ („LVZ“) 1902 und dem „Vorwärts“ 1905
arbeitete, hat sie ihre Schriften anonym oder mit andersartigen Zeichen
veröffentlicht.
Feliks Tych erstellte 1962 eine Liste von 23 Zeichen der Pseudonyme
Rosa Luxemburgs, wie z.B. Gracchus, Jozef Chumura, Junius,
Juventus, K., M.R., Macie Rozga, Mortimer, R. Kruszynska, R.,
rg , R.K. , R.L. , Spartakus, X , II , ? und ♂, das biologische
Zeichen für männlich. Im Jahre 2004 fügte der japanische Rosa-
Luxemburg-Forscher Narihiko Ito als Zeichen K.P. hinzu.
Band 6 ist vor allem geprägt vom Engagement Rosa Luxemburgs als
Journalistin. Dreimal zeichnete sie für einige Wochen bzw.
wenige Monate in einflussreichen sozialdemokratischen Presseorganen,
verantwortlich und hinterließ mehr politische und persönliche Spuren als
bisher bekannt. Dabei offenbaren sich besondere journalistischen
Fähigkeiten. In der „Sächsischen Arbeiter-Zeitung“ („SAZ“) finden sich
aus der Zeit vom 5. Juli bis 30. Oktober 1898 vierzig Beiträge bzw.
Notizen mit hohem zeitgenössischem Informationscharakter. Sie wertete
die neuesten Meldungen ausländischer Zeitungen und Zeitschriften aus
und schilderte Tatsachen der französischen, belgischen, englischen und
der italienischen Arbeiterbewegung. Mehrfach beschäftigte sie sich mit dem
Engagement der französischen Sozialisten in der Kommunalpolitik.
Unter der Überschrift „Erörterungen über die Taktik“ richtete sie
in der „SAZ“ ab 16. Oktober 1898 eine Rubrik ein, die die
Auseinandersetzung mit den Thesen von Eduard Bernstein zur Revision
der Lehre von Marx vorantreiben sollte. Die Rubrik umfasst 13 Artikel,
die mit unterschiedlichen Zeichen bzw. anonym erschienen und sie
werden erstmals geschlossen als Serie in Band 6 veröffentlicht. Im
Interesse eines wirkungsvollen Disputs über die bisherige und die
künftige Taktik der Sozialdemokratie gab sie auch gegenteiligen
Auffassungen Raum. Der Leser lernt mit der Rubrik sowohl
Hauptakteure als auch ihre Argumente kennen. Das gehörte für Rosa
Luxemburg zu den Prämissen für eine sinnvolle Streitkultur. Es gelte
Meinungsverschiedenheiten prononciert auszusprechen und nicht zu
verkleistern, nicht zu beschwichtigen, sondern Klarheit im Widerstreit
der Meinungen zu erreichen.
Für ihre Mitarbeit an der „Leipziger Volkszeitung“ im Jahre 1902
konnten insgesamt 43 Beiträge ermittelt werden, wovon bereits 17 im
ersten Band der „Gesammelten Werke“ veröffentlicht worden sind. 26
vorwiegend ungezeichnete Beiträge konnten für den vorliegenden Band
identifiziert werden. Als Rezensentin von Karl Kautskys Broschüre „Die
soziale Revolution“ resümierte sie über das Verhältnis zur bürgerlichen
Demokratie: „Die Demokratie ist für das Proletariat, was Luft und Licht
für den Organismus, ohne sie kann es seine Kräfte nicht entfalten. Aber
über dem Wachstum der einen Klasse darf man nicht das gleichzeitige
Wachstum des Gegners übersehen. Die Demokratie hindert nicht die
Entwicklung des Kapitals, dessen Organisation, dessen politische und
ökonomische Macht zur selben Zeit zunehmen wie die Kraft des
Proletariats.“
In ihren Arbeiten bei der „LVZ“ wandte sie sich auch
dem Thema Religion mit ihren Artikeln „Der neue Glaube“ und
„Proletariat und Religion“ zu. Sie differenzierte dabei zwischen der
Entstehung der Religionen und deren jeweiliger historischer Rolle.
Überraschend war der Fund des handschriftlichen Entwurfs für die
Klausurarbeit über die Lohnfondstheorie aus dem Jahre 1897 im
Nachlass von Jürgen Kuczynski in der Zentral- und Landesbibliothek
Berlin. In diesem Zusammenhang werden die beiden Klausurarbeiten
über Staatsverträge und die Lohnfondstheorie zum Promotionsverfahren
an der Universität Zürich 1897, von dem in Band 1/1 die
Dissertationsschrift publiziert worden ist, nach ihrer Handschrift
veröffentlicht. Eine bisher völlig unbekannte Rarität sind handschriftliche
kritische Notizen Rosa Luxemburgs von 1902 für Franz Mehring zu
Bemerkungen von Friedrich Engels in seinen Artikeln in der „Neuen
Rheinischen Zeitung“ zur Polendebatte 1848 in der Frankfurter
Nationalversammlung aus dem Archivum Akt Nowych (ANN) Warschau.
Franz Mehring verwertete sie postwendend als Herausgeber in seiner
Einleitung zum Dritten Band „Marx, Engels: Gesammelte Schriften 1841
bis 1850“ und würdigte Rosa Luxemburgs konstruktive Hilfe freundlichst.
Im Band 6 wird ein neuer Brief Rosa Luxemburgs an die
Presskommission der „LVZ“ aus der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen
e.V. veröffentlicht. Er steht in enger Verbindung mit den gestrichenen
handschriftlichen Manuskriptseiten Rosa Luxemburgs für einen Artikel
zur Schlichtung der Zwistigkeiten mit der PPS in der „LVZ“ aus dem
Nachlass Jürgen Kuczynski. Es kam zu einem zeitweiligen Bruch Rosa
Luxemburgs mit Franz Mehring und ihrer Aufkündigung der Mitarbeit an
der „LVZ“.
Ab 1. November bis zum 28. Dezember 1905 war sie
Chefredakteurin des „Vorwärts“. Im Band 6 unterbreiten wir von
Rosa Luxemburg 63 Artikel. Für das Jahr 1905 enthält der Band
insgesamt 125 Dokumente. Mit dem Artikel „Unsere Aufgabe“ vom 31.
Oktober 1905 umriss Rosa Luxemburg, wichtige journalistische
Grundsätze. Aus dem Wust der äußeren Gegebenheiten sei das
Wesentliche und Grundlegende herauszuschälen, deren ökonomische
Bedingtheit und Bedeutung zu zeigen.
Wir haben aus ihrer Feder im „Vorwärts“ eine zweiteilige Artikelserie
„Aus dem Marx`schen Buche“ gefunden. Rosa Luxemburg offerierte
darin zwei ausgewählte Stichproben aus dem von
Karl Kautsky herausgegebenen Buch „Theorien über den Mehrwert. Aus
dem nachgelassenen Manuskript ´Zur Kritik der politischen Ökonomie´
von Karl Marx“. Sie wollte zeigen, welchen Genuss und Bereicherung die
Lektüre Marxscher Gedanken machen könne, z.B. anhand des Dialogs
zwischen Arbeiter und Kapitalist zur Frage wie der Profit entsteht.
Das Hauptaugenmerk ihres journalistischen Engagements aber galt in
erster Linie der russischen Revolution von 1905, den Problemen und
Erfahrungen. Das zaristische Russland war 1905 von der ersten
Revolution mit dem neuen Kampfmittel des politischen Massenstreiks
erschüttert worden. Rosa Luxemburgs kam zur Erkenntnis, dass der
Massenstreik die Erscheinungsform des proletarischen Kampfes in
der Revolution ist. Rosa Luxemburg hat mit der Propagierung des
politischen Massenstreiks versucht, die Enge des Organisationsdenkens
in Sozialdemokratie und Gewerkschaften zu durchbrechen. Der Band 6
enthält erstmals Rosa Luxemburgs Vorwort zur russischen Ausgabe ihrer
Schrift „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften“ aus dem Jahre 1906.
Darin ging sie vor allem auf den Verlauf und die Ergebnisse der Debatten
über das Für und Wider von Massenaktionen in der deutschen
Sozialdemokratie ein. Aus ihren Leitartikeln verdienen viele Äußerungen
zur Einschätzung des Standes, der Ursachen, der Triebkräfte, der Taktik
und Kampfformen, der Ziele und auch der ungebrochenen Stärke des
Gegners hervorgehoben zu werden. Rosa Luxemburgs
Revolutionsbegeisterung sowie die detaillierte Darstellung der Revolution
und deren Lehren für Theorie und Praxis der sozialdemokratischen
Bewegung durchziehen als Grundanliegen sämtliche Artikel und Notizen
in diesem Band.
Mit der Rubrik „Die Revolution in Russland“ gab sie im „Vorwärts“ ein
zeitgeschichtliches Panorama, wie es kein Historiker hätte besser
gestalten können, das Auf und Ab des Revolutionsgeschehen kommt
faktenreich zum Tragen, wie auch die sowohl verwirrenden als auch
tödlichen Maßregeln der verschiedenen Elemente der Konterrevolution.
Am Ende des Bandes 6 erscheint die Rubrik „Aus der Partei“. In 38
Beiträgen wird präsentiert, wie Rosa Luxemburg Einfluss auf
Grundprobleme und auf kritische Kommentare zu Wortmeldungen aus
den Parteiorganisationen und den Gewerkschaften nahm. Hier befinden
sich interessante Notizen u.a. über Anarchismus und
Sozialismus, über Sozialdemokratie und Republikanismus, zum
„Vorwärts“-Konflikt, zur Arbeiterbildung, zu Kommunalwahlen, zur
sozialdemokratischen Pressearbeit, sie antwortete auf die Frage “Was
ist Revisionismus“, sie enthüllte die üble Verleumdung, dass sie die
gewerkschaftliche Arbeit als „Sisyphusarbeit“ bezeichnet hätte.
Der Band 7 in zwei Halbbänden hat eine ganz andere Struktur als die
Bände 1 bis 6. Der Band 7 in zwei Halbbänden umfasst 160
Dokumente im Umfang von 1135 Druckseiten und erstreckt sich von
1907 bis 1918. Er weist andere Probleme als die vorherigen Bände auf
und ist vielfältiger. Ein Charakteristikum ist die Tatsache, dass die Hälfte
des Bandes 7 aus Originalhandschriften Rosa Luxemburgs besteht.
Im Band 7/1 werden präsentiert: das Manuskript Rosa Luxemburgs über
den 2. und 3. Band des „Kapitals“ für einen Abschnitt in Franz
Mehrings Karl-Marx-Biographie, ihre handschriftlichen Notizen zu
Rechtsfragen bei Ferdinand Lassalle, ihre kritischen Ergänzungen zu
Clara Zetkins Resolutionsentwurf über Jugenderziehung zum
Nürnberger Parteitag1908.
Einen besonderen Platz nehmen mehr als 200 Blatt
fragmentarische handschriftliche Notizen und Exzerpthefte Rosa
Luxemburgs zu Problemen der Nationalökonomie und
Wirtschaftsgeschichte, u.a. zur Geschichte der Krisen, zu Tendenzen der
Kartell- und Trustentwicklung, zur Finanz- und Begriffswelt von Bank-
und Börsengeschäften, zum Groß- und Kleinbetrieb in der
Landwirtschaft, zur Geschichte Südafrikas und zur Kolonialisierung
Afrikas, zur Sklaverei und zu den Widersprüchen des Kapitalismus in
ihrem Nachlass in der Stiftung Archiv der Parteien und
Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO-BArch),
Berlin. In den Exzerpten und fragmentarischen Notizen spiegeln sich
Probleme der englischen frühbürgerlichen Revolution und das Entstehen
des Parlamentarismus und der Kriege und Bürgerkriege in Europa im 17.
Jahrhundert wider. Rosa Luxemburg referiert die Geschichte der Krisen
im 19. Jahrhundert und setzt sich mit Auffassungen von führenden
Nationalökonomen Englands, Frankreichs, Deutschlands und Russlands
über die Entstehung von Krisen im Kapitalismus auseinander. Für ihre
Revolutionstheorie bildeten ihre mannigfachen Untersuchungen über die
innere Kohärenz und Periodisierung der Revolution in England nach
1640 anhand der Exzerpte der Publikation von Francois Guizot über die
historische Systembeschreibung der englischen Revolution nach 1640
die systematische und analytische Grundlage. Die Exzerpte über
Veröffentlichungen von russischen Nationalökonomen, darunter von
Lenin über die ökonomische Romantik von Sismondi, hat Slawik Hedeler
entziffert, übersetzt und bearbeitet.
50 Blatt handschriftliche Notizen und Bemerkungen über Widersprüche
und Tendenzen des Kapitalismus aus dem Nachlass von Jürgen
Kuczynski vervollständigen und ergänzen die Materialien. Darin heißt
u.a.es: Der Kapitalismus „bedroht die Existenz immer breiterer Kreise
der Menschheit auf dem Erdenrund, indem er sie verelendet,
proletarisiert, dem Kapital unterjocht, ihre mat[erielle] Ex. unsicher
macht. Tendenz: Die ganze Menschheit zum Frondienst für die
Profitproduktion einer Handvoll Millionäre zu machen.“
In der Wiedergabe des Gelesenen sind oft Rosa Luxemburgs eigene
Überlegungen und Erkenntnisse eingestreut. Es sind einmalige
Zeugnisse über die Arbeit und den Erkenntnisprozess Rosa Luxemburgs
als Wissenschaftlerin. Sie präzisierte immer wieder die Schwerpunkte,
auf die es ihr bei der Analyse des Kapitalismus und für die umwälzende
Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse ankam. Ausdrücklich
interessierte sie sich für die Zusammenhänge von
Entwicklungstendenzen und Konflikten, für die Einzelheiten und
Widersprüchlichkeiten zwischen Politik und Ökonomie.
Inhaltlich handelt es sich bei den handschriftlichen Unterlagen von
Rosa Luxemburg sowohl um die Vorbereitung ihrer Lehr-
und Vortragstätigkeit als auch um Erwägungen über die Gestaltung ihrer
Bücher „Akkumulation“ und die „Einführung in die Nationalökonomie“. In
den Texten befinden sich Fragen und Thesen, Varianten von
Gesichtspunkten, Streichungen und Wiederholungen, Literaturverweise
und-auszüge, Polemiken und mehrere Formen von Hervorhebungen.
Im Band 7/1 werden die handschriftlichen Aufzeichnungen von Jacob
Walcher an der Parteischule der SPD 1910/11 aus dem Nachlass
Walcher in SAPMO-BArch präsentiert. Rosa Luxemburg unterrichtete
als Lehrerin dort ab Herbst 1907 Nationalökonomie. Die Aufzeichnungen
umfassen sechs Diarien mit über 215 Seiten zu je 20 Zeilen. Rosa
Luxemburg behandelte nach Walchers Aufzeichnungen u. a. die Rolle
und die Geschichte der Banken und Aktiengesellschaften, der Kartelle
und Trusts. Deutschland sei in der Kartellbewegung das führende Land.
In den USA seien die Kartelle durch die Schutzzollpolitik, bestimmte
Naturbedingungen und den Privatbesitz der Eisenbahnen erstarkt.
Wie sehr sich Rosa Luxemburg für die Zusammenhänge zwischen
Monopol, Preisbildung und gesamtgesellschaftliche Reproduktion
interessierte, zeigen ihre Unterstreichungen, Fragezeichen und
kritischen Randbemerkungen in ihrem Exemplar des 1910 in Wien
erschienenen Buches von Rudolf Hilferding „Das Finanzkapital“. Es wird
in der Bibliothek von SAPMO-BArch unter der Signatur CZ 1167
verwahrt. Die unterschiedlichen Bemerkungen Rosa Luxemburg
beziehen sich sämtlich auf Passagen im 13. Kapitel über die
kapitalistischen Monopole und den Handel, im 15. Kapitel über die
geschichtliche Tendenz des Finanzkapitals, im 16. Kapitel über die
allgemeinen Bedingungen der Krisen und im 17. Kapitel
über die Ursachen der Krisen. Hilferding war der Auffassung, „ dass es
eine absolute Grenze für Kartellierung nicht gibt….Als Resultat des
Prozesses ergäbe sich dann ein Generalkartell. Die ganze kapitalistische
wird bewusst geregelt von einer Instanz, die das Ausmaß der Produktion
in allen Sphären bestimmt.“ Neben den Ausdruck „Generalkartell“
setzte Rosa Luxemburg ein Fragezeichen. Das korrespondiert mit ihrem
oben genannten handschriftlichen Fragment zur Entstehung und
Entwicklung des Kapitalismus über die Rolle der Kartelle
und Trusts, in dem es heißt „4. Kann ein ´Generalkartell´ entstehen?“
Die Mitschriften von Rosi Wolfstein aus dem Kurs 1912/13 über
Nationalökonomie an der Parteischule der Sozialdemokratie, die
vermutlich in Stenografie erfolgt sind und maschinenschriftlich vorliegen,
befinden sich als Typoskripte im Russländischen Staatlichen Archiv für
Sozial- und Politikgeschichte in Moskau. Sie liegen im SAPMO-BArch als
Kopien vor. Diese Typoskripte waren sehr wahrscheinlich in
Vorbereitung auf die in den zwanziger Jahren geplante neunbändige
Werkausgabe Rosa Luxemburg entstanden. Die Mitschriften behandeln
Sklaverei, Feudalismus, Entwicklung der Städte im Mittelalter, den 2. und
3. Band des „Kapitals“ von Marx und Geschichte der Nationalökonomie.
Die letzten zwei Positionen können durch die Parteischulzeit von
Walcher und Wolfstein exakt datiert. Für alle anderen handschriftlichen
Fragmente gibt es im Band 7/1 keine konkreten Daten zu ihrer
Entstehung.
Dokumente über Rosa Luxemburgs wirkungsvollen Anteil an
ökonomischer und wirtschaftsgeschichtlicher Bildungsarbeit in Berlin auf
öffentlichen Großveranstaltungen der Berliner Sozialdemokratie im
Oktober/November 1907 fanden wir im Bestand Polizeipräsidium Berlin
des Landesarchivs Berlin. Die Vorträge zeigen exemplarisch, wie Rosa
Luxemburg anhand historischer Beispiele, ökonomischer und sozialer
Zusammenhänge Sozialdemokraten bildhaft über Ursprünge und
Funktionsweise der kapitalistischen Wirtschaft aufklärte. Die Vorträge
waren eine Vorstufe und Grundlage zu ihrer fragmentarischen Schrift
„Einführung in die Nationalökonomie“, die erstmals 1925 von Paul Levi
herausgegeben wurde. Die in den Polizeiberichten erfassten Inhalte,
Argumentationslinien und wesentlichen politischen Aussagen sind in den
Aufzeichnungen von Jacob Walcher und Rosi Wolfstein im Band 7/1
über ihre Vorlesungen zur Nationalökonomie an der Parteischule der
SPD und in den Texten ihrer „Einführung in die Nationalökonomie“
enthalten, natürlich waren sie ausführlicher und mit viel statistischem
Material angereichert.
Im Band 7/2 werden erstmals die Beiträge und Aktivitäten Rosa
Luxemburgs bei den Verhandlungen und Resolutionen des Kongresses
der II. Internationale in Kopenhagen 1910 nach dem französischen
Protokoll ausführlich dokumentiert. Aus einem Brief Rosa Luxemburgs
an Leo Jogiches vom 31. August 1910 geht hervor,
dass die von Clara Zetkin eingebrachte Resolution gegen die
Todesstrafe auf dem Kongress in Kopenhagen von Rosa Luxemburg
ausgearbeitet wurde.
Im gleichen Band sind Reden Rosa Luxemburgs enthalten, die
den innerparteilichen Meinungsbildungsprozess in der Sozialdemokratie
zur Propagierung und Anwendung des politischen Massenstreiks
widerspiegeln. Das betrifft besonders Ansprachen Rosa Luxemburgs
auf drei parteiinternen Veranstaltungen, so auf einer
Parteivorstandssitzung mit Gewerkschaftsvertretern Anfang August
1913, auf einer Sitzung des Jenaer Parteitages 1913 mit ausländischen
Gästen und sensationell in der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion
im Januar 1914, die nur in handschriftlichen Polizeiberichten
überliefert und im Band 7/2 abgedruckt sind.
Der Quellenwert der publizierten Polizeiberichte für die vorliegende
Edition der „Gesammelten Werke“ Rosa Luxemburgs ist immens. Mit
bürokratischer Genauigkeit werden in den Polizeiberichten
einschließlich der Berichte der Spitzel die politischen Aktivitäten und
Auffassungen Rosa Luxemburgs ohne Verzerrungen und mit hohem
Wahrheitsgehalt dokumentiert. Die Quellen zeigen, dass Rosa
Luxemburg offensiv ihre Auffassungen in öffentlichen Versammlungen,
in ihren Schriften, Artikeln, in ihren Bildungsvorträgen und Vorlesungen,
auf Parteitagen und nachweisbar in internen Beratungen vor den
leitenden Gremien der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften
darlegte. Die Vielfalt und die Breite der politischen Aktivitäten und
Auffassungen Rosa Luxemburgs werden durch die Polizei- und
Spitzelberichte ebenso wie durch die bisher unbekannte
sozialdemokratische Zeitungsberichte über Versammlungen in den
Bänden 6, 7/1 und 7/2 sichtbar erweitert.
Aus dem Nachlass Paul Levi im Archiv der sozialen Demokratie der
Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn werden im Band 7/2 die umfangreichen
Vorbereitungsunterlagen Rosa Luxemburgs für den 2. Prozess 1914
gegen sie wegen angeblicher Beleidigung des preußischen
Kriegsministers im Zusammenhang mit Soldatenmisshandlungen
abgedruckt. Zu den Vorbereitungsmaterialien gehören handschriftliche
Notizen über Soldatenmisshandlungen mit Zeitungsausschnitten, Zitaten
verschiedener Kriegsminister und diverser Militärs und Fragen der
Militärstrafprozessordnung im Wilhelminischen Kaiserreich sowie
Zeugenaussagen zu Soldatenmisshandlungen. Rosa Luxemburg
formuliert dazu Thesen bzw. Folgerungen für ihr Auftreten im Prozess.
Rosa Luxemburg signierte mit Beginn des ersten Weltkrieges ihre Artikel
aus Vorsicht vor polizeilicher Überwachung und juristischer Verfolgung
nicht mehr. Bei der Identifizierung der Artikel von Rosa Luxemburg in der
„Sozialdemokratischen Korrespondenz“ waren uns die
Forschungsarbeiten von Ottokar Luban eine wertvolle Hilfe.
Die erstmalige Durchsicht sämtlicher Nummern des
sozialdemokratischen Propagandaorgans „Der Kampf“,
Duisburg, Jg. 1917, brachte den II. Brief von Gracchus „Offene Briefe
an Gesinnungsfreunde. Vom Klassenkampf innen und außen“ und „Die
Schicksalsstunde der Partei“ an den Tag. Wir mussten die Widersprüche
im Umgang mit Artikeln aus dem „Kampf“ klären. Denn zehn der 19
Artikel Rosa Luxemburgs sind in den 1960er Jahren im Band 15 der
„Gesammelten Schriften“ als Franz Mehring-Artikel abgedruckt worden.
Vermutlich ist es zu einer Verwechslung des biologisch männlichen
Zeichens ♂ Rosa Luxemburgs mit dem Zeichen des Schützen ♐ von
Franz Mehring gekommen. Anhand aller Nummern des „Kampfes“, die
sich als Einzelnummern entweder in der Bibliothek der Stiftung der
Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im
Bundesarchiv (SAPMO-BArch) in Berlin-Lichterfelde oder im Stadtarchiv
Duisburg befinden, konnte ich ermitteln, dass Franz Mehring, im
Unterschied zu Rosa Luxemburg, während des ersten Weltkrieges seine
Artikel im „Kampf“ immer mit seinem Namen zeichnete.
Band 7/2 enthält ebenfalls Dokumente zu polizeilichen Befragungen von
Rosa Luxemburg bei Hausdurchsuchungen 1916 wie auch ihr
literarisches Kleinod „Die Geheimnisse eine Gefängnishofes“.
Weitere persönliche Dokumente Rosa Luxemburgs, wie die Kalender
von 1915, 1917 und 1918, die im Hoover Institution on Ware, Revolution
and Peace in Stanford, Kalifornien/USA aufbewahrt werden, werden
nach Entzifferung von dort mit kleinen Korrekturen in frei zitierten
Literaturstellen abgedruckt. Die Aussagen dieser Dokumente wurden
von Annelies Laschitza durch die Entschlüsselung sämtlicher Initialen
und anderer Kürzel von Namen bereichert und durch Zitate aus
unbekannten bzw. schwer zugänglichen Dokumenten aus ihrem reichen
Quellenfundus erweitert, so durch die Berichte von Mathilde Jacob und
Sophie Liebknecht über Besuche bei Rosa Luxemburg während ihrer
„militärischen Schutzhaft“ und einen Erinnerungsbericht des
Gefängnisdirektors Ernst Dossmann.
Zu den Lebens- und Forschungsbedingungen während ihrer
„militärischen Schutzhaft“ im ersten Weltkrieg werden somit neue
Quellen mit dem Gefängniskalender und zugehörige Informationen in
den Anmerkungen gegeben. Damit wird wie mit der Veröffentlichung der
Briefe Rosa Luxemburgs ihre Individualität sichtbar.
Das Resümee der Analysen Rosa Luxemburgs über das Versagen der
deutschen Sozialdemokratie und II. Internationale mit Ausblicken auf die
Nachkriegszeit bilden 32 Blatt handschriftliche Fragmente aus dem
Jahre 1918. Während des ersten Weltkrieges verschärfte Rosa
Luxemburg ihre Kritik an der Sozialdemokratie und an den
Gewerkschaften. Nach einem Brief von Mathilde Jacob vom 25. Januar
1919 dachte Rosa Luxemburg über einen zweiten Teil ihrer Junius-
Broschüre nach. Die handschriftlichen Fragmente in ihrem Nachlass
zur Geschichte der Internationalen, der deutschen Sozialdemokratie, zu
Krieg, Revolution und Nachkriegsperspektiven aus dem Jahre sind
wahrscheinlich dazu Gedankenskizzen. Sie sind eine Rarität des
Bandes 7/2 ihrer „Gesammelten Werke“ und werden erstmals
vollständig in ihrer ursprünglichen Form veröffentlicht. Produkte und
Grundlagen der Periode der II. Internationale seien Passivität der
Massen, Kritiklosigkeit der Massen. „Die Organisation zu ihrem Zweck in
diametralen Widerspruch geraten. Massenorg[anisation] als Mittel, die
Masse zum ohnmächtigen Werkzeug einer Handvoll Funktionäre zu
machen. Der Zwiespalt im Wesen der Arbeiterbeweg[ung] Theorie
revolutionär, Praxis rein bürg[erlich].“ Die Gewerkschaften
charakterisierte sie als „Bürokratie über die Masse“ in reiner Defensive.
Das hieße Rückkehr zur Taktik der englischen Tradeunions des 19.
Jahrhunderts, und das „in der Periode der Kartelle, Banken,
Imperialismus, Militarismus, Teuerung, indi[rekte] Steuern, Schutzzoll.“
Sie bezeichnete den Weltkrieg als „die Kritik und den Abschluss der 2.
Periode“ der Geschichte des Sozialismus, in der der Parlamentarismus
und die ständige Organisation zum Tageskampf dominierten.“ Die
Nationalitätenfrage, das Schicksal der Kolonien, die Perspektiven und
die Schuldenlasten durch Militarismus und die Kriegskosten würden sich
nach dem Weltkrieg als die wichtigsten der großen weltweit ungelösten
Probleme erweisen.
Abgeschlossen wird der Band mit handschriftlichen geologischen und
botanischen Notizen Rosa Luxemburgs, deren Redaktion in den Händen
von Marion Schütrumpf lag.
Mit den Bänden 6 und 7 in zwei Halbbänden werden neue Quellen und
Forschungsergebnisse zu den ökonomischen Auffassungen Rosa
Luxemburgs, zu ihrer Arbeitsweise und zu ihrem Denken präsentiert.
Anschaulich wird dokumentiert, dass sich Rosa Luxemburgs
Revolutionstheorie hauptsächlich aus der Ökonomie des Kapitalismus
und aus Studien über die frühbürgerliche englische Revolution erschloss.
Rosa Luxemburg hat sich von ihrer Dissertation an, in ihren Vorlesungen
an der Parteischule der SPD und in ihren ökonomischen Schriften und
Notizen Fragen der marxistischen politischen Ökonomie große
Aufmerksamkeit gewidmet. Die Notizen und Exzerpte belegen wie
intensiv Rosa Luxemburg die neuen ökonomischen und politischen
Erscheinungen analysierte. Zugleich nahm sie theoretische
Erklärungen anderer Ökonomen auf, sie griff immer wieder auf Schriften
von Marx, Engels und Lassalle zurück und reflektierte Auffassungen von
bürgerlichen Ökonomen, wie z. B. Rodbertus, Sismondi, A.Smith, Tugan-
Baranowski, Malthus, Struve, Kirchmann. All das fand neben ihren
Schriften Niederschlag in den Aufzeichnungen ihrer Parteischüler
Walcher und Wolfstein. Mit diesen Mitschriften lassen sich die
verlorengegangenen Abschnitte über die Profitrate und die Krisen im
vorgesehenen Plan ihrer „Einführung in die Nationalökonomie“
rekonstruieren.
Der große Wunsch von Annelies Laschitza war es, auch den
vollständigen Druck der ins Deutsche übersetzten polnischen Arbeiten
Rosa Luxemburgs zu erleben. Bislang sind von den insgesamt wohl
2.500 Druckseiten polnischer Sprache knapp die Hälfte auch in
deutscher Übersetzung gedruckt worden. Die Einbindung dieses für die
Forschung so wichtigen Bestands in die mit den Namen Annelies
Laschitza und Günter Radczun verknüpfte Werkausgabe steht noch aus.
Holger Politt, der seit einigen Jahren Schriften und Artikel Rosa
Luxemburgs aus dem Polnischen übersetzt und veröffentlicht hat, stellt
sich dieser wichtigen Editionsarbeit. Auf dieser Grundlage sollen die
„Gesammelten Werke“ durch Bände mit allem aus dem Polnischen ins
Deutsche übersetzten Schriftguts Rosa Luxemburgs vervollständigt
werden.
Annelies Laschitza hat energisch und letztlich erfolgreich mit daran
gearbeitet, die unsägliche stalinistische Verfemung Luxemburgs zu
überwinden und so mitgewirkt, der nicht nur von allen Linken in der Welt
hochgeschätzten Rosa Luxemburg den ihr gebührenden Ehrenplatz als
Revolutionärin, Theoretikerin und Humanistin zu verschaffen. Sie blieb
sich selbst als marxistische Historikerin treu. Sie hat Bleibendes
geschaffen. Hab Dank, liebe Annelies.
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