In Memoriam Prof. Dr. Annelies Laschitza
(6.2.1934 – 10.12.2018)

A

1980 hatten sich in der Rosa-Luxemburg-Forschung engagierte internationale Historikerinnen und Historiker in Zürich in einem losen Netzwerk, der Internationalen Rosa-Luxemburg-Gesellschaft (IRLG), zusammengefunden. Obwohl Annelies Laschitza nicht an diesem internationalen Gründungstreffen teilnehmen konnte, galt sie doch auf Grund ihres vorhergehenden mehrjährigen intensiven Gedankenaustausches mit den ‚Mitgliedern‘ der IRLG wie z. B. Feliks Tych (Polen), Narihiko Ito (Japan), Claudie Weill und Gilbert Badia (Frankreich) von Anfang an als zugehörig. Diese Kolleg*innen hatte sie schon 1973 auf einer großen, sie sehr beeindruckenden Rosa-Luxemburg-Konferenz in Reggio Emilia, Italien, kennen gelernt und in den Folgejahren den Kontakt zu ihnen intensiv gepflegt.

Die 1966 promovierte und 1982 habilitierte DDR-Historikerin war als profunde Kennerin von Leben und Werk Rosa Luxemburgs und der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (speziell der Zeit bis 1917) ausgewiesen. Als Sektorleiterin am Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED (IML) war sie maßgeblich bei allen Forschungs- und Publikationsvorhaben zu Rosa Luxemburg und auch zu Karl Liebknecht beteiligt, trat 1971 als Co-Autorin zusammen mit Günter Radczun mit einer politischen Biografie über Rosa Luxemburg hervor, erreichte durch hartnäckiges Drängen gemeinsam mit dem Mitstreiter Radczun, der die Redaktionsleitung inne hatte, dass 1974 in Band 4 der Gesammelten Werke Rosa Luxemburgs (1970 -1975, 5 Bände) nach mühseligen Diskussionen das in der kommunistischen Bewegung umstrittene Manuskript zur russischen Revolution mit Genehmigung der SED- und KPdSU-Oberen erscheinen durfte. Dabei hatte sicherlich die politische Entspannung mit dem Vier-Mächte-Abkommen und dem nachfolgend 1972 geschlossenen Grundlagenvertrag zwischen BRD und DDR eine erhebliche Rolle gespielt.

Als renommierte Rosa-Luxemburg-Expertin und auch als stellvertretende Vorsitzende des DDR-Historikerverbandes konnte Annelies Laschitza in den folgenden Jahren auf vielen Veranstaltungen, auch international in Ost und West und in der alten Bundesrepublik, ihre Forschungsergebnisse, insbesondere zu Rosa Luxemburg, präsentieren. Aber für die Teilnahme an den Konferenzen der Internationalen Rosa-Luxemburg-Gesellschaft erhielt sie keine Genehmigung, weil die Leitung des IML vermutete, dass die IRLG die Idee eines dritten Weges, eines demokratischen Sozialismus, verbreiten würde, und deshalb eine ideologische Unterwanderung der DDR-Historiker*nnen befürchtete. Nur zur Konferenz der IRLG im Mai 1983 in Paris durfte sie fahren – dank besonderer Bemühungen von Seiten des französischen Historikers und KPF-Mitgliedes Gilbert Badia bei den DDR-Instanzen. Den Paris-Aufenthalt konnte sie sogar verlängern, um intensive Gespräche mit der in der französischen Metropole lebenden Regisseurin Margarethe von Trotta für das Rosa-Luxemburg-Filmprojekt zu führen, dessen wissenschaftliche Beratung sie übernommen hatte. 

Auf der Pariser IRLG-Konferenz von 1983 stellte Annelies Laschitza die wichtige Edition der Gesammelten Briefe Rosas Luxemburgs in 5 Bänden vor und präsentierte dort bereits die ersten Bände, alles ein mit intensivem Recherchen verbundenes, anspruchsvolles, bedeutendes Forschungs- und Publikationsvorhaben unter ihrer Leitung.

Nach der Wende in der DDR Anfang der 1990er Jahre sah Annelies Laschitza als leitende Mitarbeiterin der Anfang 1990 aus dem IML hervorgegangenem Nachfolgeeinrichtung Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung (bis zur Auflösung im März 1992) „ungeahnte Möglichkeiten“, wie sie es in ihren Erinnerungen formulierte.* Nunmehr konnte ohne Gängelung durch eine Partei frei geforscht und veröffentlicht werden.

So veranstaltete Annelies Laschitza im März 1991 dann selbst an ihrem Institut eine Rosa-Luxemburg-Konferenz mit all den internationalen Experten, mit denen sie seit Jahren im intensiven Gedankenaustausch gestanden hatte: Narihiko Ito (Japan), Jacqueline Bois, Claudie Weill, Gilbert Badia (Frankeich), Jakow Drabkin (Moskau), Feliks Tych (Warschau), Theo Pinkus, Markus Bürgi (Schweiz), außerdem eine ganze Reihe Historiker*nnen aus ganz Deutschland wie  Ulrich Cartarius, Dieter Engelmann, Ossip K. Flechtheim, Hartmut Henicke, Ursula Hermann, Helmut Hirsch, Elke Keller, Klaus Kinner, Till Schelz, Hans-Josef Steinberg, Henryk Skrypczak, Helmut Trotnow u. a. Die hohe Wertschätzung für die frühere DDR-Wissenschaftlerin zeigte sich auch darin, dass sie 1991 und 1992 mit einer Gastprofessur an der Universität Bremen beauftragt wurde.

Jetzt konnte sie auch an den Tagungen der Internationalen Rosa-Luxemburg-Gesellschaft teilnehmen wie im November 1991 in Tokio, im November 1994 in Beijing, im September 1996 in Warschau, im Mai 1998 in Chicago und im Januar 1999 in Berlin. Danach waren ihr wegen der Pflege ihres an Parkinson erkrankten Mannes Horst Laschitza für mehrere Jahre Auslandsreisen nicht mehr möglich. Doch 2009 in Berlin hielt sie auf dem gemeinsam von der IRLG und der Rosa-Luxemburg-Stiftung organisierten großen internationalen Kongress eines der Hauptreferate. 1913 auf der Tagung der IRLG in Paris präsentierte sie ihr letztes großes Projekt, die Erfassung und Publikation aller bisher in den Bänden 1 – 5 der Gesammelten Werke noch nicht veröffentlichten Reden und Schriften Rosa Luxemburgs. Weitere Veranstaltungen im Ausland, organisiert von der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv und in New York waren für sie wichtige Erfahrungen. 

Genauso liebte sie die vielen Vortragsveranstaltungen in den verschiedensten Städten Deutschlands und der Schweiz, häufig zur Vorstellung eines ihrer neuen Werke, für die sie unermüdlich warb. Mit ihrer lebhaften, engagierten Vortragsweise verstand sie es, ihr Publikum zu fesseln und es für ihre Forschungsergebnisse zu begeistern. Sie strahlte dabei nicht nur große fachliche Kompetenz, sondern auch viel menschliche Wärme aus.

 Ein besonderes Anliegen war für sie der freundschaftliche Gedankenaustausch mit den Kolleginnen und Kollegen. Diese schätzten ihre Offenheit, ihre Kooperationsbereitschaft und ihre Gastfreundschaft. So lud sie im Anschluss an der Berliner Konferenz der IRLG im Januar 1999 Teilnehmer*nnen zum Essen mit einer von ihr zubereiteten „Leipziger Allerlei“ Suppe in ihre Wohnung ein, wo die Gelegenheit zur Diskussion über die nächsten Veranstaltungen und Projekte zur Rosa-Luxemburg-Forschung genutzt wurde. Genauso wurde in ihrem Kleingarten in lockerer Atmosphäre bei Kaffee und Obstkuchen manches wichtige Fachgespräch mit deutschen wie internationalen Gästen geführt. Diese Begegnungen waren nicht nur von Kompetenz und Offenheit in fachlichen Angelegenheiten, sondern auch von Warmherzigkeit und menschlichem Interesse gegenüber ihren Gesprächspartner*nnen geprägt. Sie war ein Familienmensch. Deshalb gehörte bei allen Begegnungen auch ein Austausch über das Wohlergehen und Fortkommen der Familienangehörigen, vor allem der Enkelkinder, dazu.

Sie war sehr schnell bereit, sich nach der Schließung des Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung, ihrer Arbeitsstätte, privat einen Computer anzuschaffen und sich daran einzuarbeiten. Aber einem Anschluss an das Internet verweigerte sie sich trotz vielfacher Argumente aus der familiären und kollegialen Umgebung. Für sie war der Versand von Briefen persönlicher als die elektronische Post in Form von E-Mails. 

Für ihre vielen Publikationen in den Jahren ab 1990 hier nur die wichtigsten Beispiele:**

Die zuerst 1989 publizierte wichtige Briefauswahl „Herzlichst Ihre Rosa“ (aus den Bänden 1 - 5 der Gesammelten Briefe) erschien 1990 in einer 2. Auflage und 2011 – international viel beachtet - in einer englischen Ausgabe. Ebenfalls 1990 veröffentlichte Annelies Laschitza Texte zum Thema „Rosa Luxemburg und die Freiheit der Andersdenkenden“, natürlich mit dem Luxemburg-Manuskript über die russische Revolution sowie der dazugehörigen Einführung Paul Levis zur Erstveröffentlichung 1922 und einer eigenen Einleitung. 1993 konnten neu entdeckte Briefe Luxemburgs in einem umfangreichen Band 6 der Brief-Edition erscheinen.

Eine besonders große Beachtung fand ihre 1996 herausgekommene Rosa-Luxemburg-Biografie, die bald eine 2. Auflage und noch eine Taschenbuchausgabe erlebte. 2007 kam ihre Biografie über Karl Liebknecht und seine Familie heraus, in der einfühlsam das Politische mit dem Psychologisch-Familiären verknüpft, analysiert und dargestellt wurde. Im November 2018 widmete sie ihr letztes Werk „Karl Liebknecht – Advokat und Parlamentarier mit Charisma“.*** .

2002 und 2010 war sie als Mitherausgeberin an Konferenzbänden mit Referatstexten von mehreren Tagungen der Internationalen Rosa-Luxemburg-Gesellschaft beteiligt.

Mit einer gewaltigen Jahre lang andauernden Anstrengung hat Annelies Laschitza noch in ihren letzten Lebensjahren ihr wichtiges Projekt einer Publikation aller in den Bänden 1 bis 5 nicht erfassten Reden und Schriften Rosa Luxemburgs verwirklicht, mit dem unermüdlich in Archiven und Bibliotheken recherchierenden Eckhard Müller als Co-Editor. 2014 erschien der Band 6 mit 990 Seiten für die Zeit von 1893 bis 1906, 2017 kamen die beiden Teilbände 7/1 und 7/2 mit zusammen 1233 Seiten für die Zeit von 1907 bis 1918 heraus. Diese Dokumente werden in die laufende englisch sprachige Editionsreihe „Rosa Luxemburg - Complete Works“ im Verso Verlag, Chiefeditor: Peter Hudis, eingefügt.

Auf einer gemeinsamen Veranstaltung von Internationaler Rosa-Luxemburg-Gesellschaft und Förderkreis Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung am 9. Januar  2019 im Bundesarchiv Berlin wollte sie noch in Auswertung dieser letzten Bände zum Thema Rosa Luxemburgs Kampf um Gerechtigkeit referieren. Das war ihr leider nicht mehr vergönnt.

Doch mit diesen Bänden 6, 7/1 und 7/2 hat Annelies Laschitza die Reihe der Rosa-Luxemburg-Werke – soweit es die nichtpolnischen Arbeiten betrifft – abgeschlossen und damit die besten Voraussetzungen für weitere fundierte Rosa-Luxemburg-Forschungen gelegt. Mit der Komplettierung der Reihe hat die Editorin ihr Lebenswerk gekrönt. Es gilt Günter Bensers so treffender Ausspruch: „Wer Rosa Luxemburgs gedenkt, wird sich auch an Annelies Laschitza bleibend erinnern.” ****

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*  Siehe: Annelies Laschitza: Sich treu bleiben und heiter sein. Erfahrungen und Entdeckungen durch Rosa Luxemburg in mehr als 50 Jahren, Rosa-Luxemburg-Stiftung Leipzig 2018, S. 51.

** Siehe: die vollständige Bibliographie in: ebenda, S. 221 – 230.

***Siehe: Rosa-Luxemburg-Forschungsberichte 15, Leipzig 2018.

****.Siehe: Günter Benser: An der Spitze, Tageszeitung Junge Welt, 19.12.2018

 

Text: Ottokar Luban

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FAREWELL TO
C L A U D I E  W E I L L,
FRIEND AND SCHOLAR
Obituary by Michael Löwy on site “English”

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Am 10. Dezember 2017 verstarb ganz unerwartet
einer unserer Vorsitzenden

Prof. Dr. William A. Pelz (1951-2017)
nach Kreislaufversagen in einem Krankenhaus von Chicago.

Bill war ein eindrucksvoller, dynamischer linker Historiker und ein guter Freund.  Wir werden in seinem Sinne weiterarbeiten

Ein ausführlicher Nachruf auf Englisch befindet sich auf der Site “English”.

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[English version on the site “English”]

Prof. Narihiko  I T O  (1931 -2017)

Gründer und (Ehren-)Vorsitzender der Internationalen Rosa-Luxemburg-Gesellschaft

Im Alter von 86 Jahren ist der japanische Rosa-Luxemburg- und Friedensforscher, der Historiker Narihiko Ito, am 29. November 2017 verstorben.

Narihiko Ito wurde 1931 in der alten Kaiserhauptstadt Kamakura geboren, wo er auch lebte. Bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2002 lehrte er als ordentlicher Professor an der Fakultät für Geisteswissenschaften der Chuô-Universität in Tokio. Zwischenzeitlich nahm er Gastprofessuren, u.a. an der Universität Osnabrück, wahr. Sein soziales und wissenschaftliches Engagement konzentrierte sich seit jungen Jahren auf die Friedens- und Konfliktforschung. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang seine zahlreichen internationalen Aktivitäten, u.a. war er 2002-2004 Co-Vorsitzender des International Criminal Tribunal for Afghanistan (IC-TA) und von 2004-2005 des International Criminal Tribunal for Iraq (ICTI).

Internationale Bekanntheit in Forscherkreisen erlangte er insbesondere durch seine über dreieinhalb Jahrzehnte andauernde Tätigkeit als Vorsitzender der Internationalen Rosa -Luxemburg-Gesellschaft, die 1980 auf seine Initiative in Zürich gegründet wurde. Die Gesellschaft hat seitdem viele wissenschaftliche Konferenzen mit großer internationaler Beteiligung in verschiedenen Städten der Welt (Beijing, Berlin [2x], Bochum, Chicago, Guangzhou, Hamburg, Moskau, Paris [2x], Seoul, Tampere, Tokio [2x], Warschau, Zürich [2x]) durchgeführt und dazu eine Reihe von Konferenzbänden herausgegeben. Sein besonderes Anliegen war es dabei, in jenen Jahren des „Kalten Krieges“ eine Möglichkeit der Begegnung und Verständigung von Rosa-Luxemburg-ForscherInnen und aus West und Ost zu schaffen. Weiterhin hat Narihiko Ito viele Jahrzehnte an den alljährlich in Linz stattfindenden Tagungen der International Conference of Labour and Social History – ITH - als Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der ITH und als Vertreter der japanischen Geschichtswissenschaftler mitgewirkt.

Die Liste seiner Publikationen auf Japanisch, Deutsch und Englisch ist lang. Beispielhaft seien genannt: In Japan: Licht zur Überwindung des Dunkels – Für die Beziehungen zwischen Japan und Korea im 21. Jahrhundert (2000); Eine Geschichte des Artikels 9 der japanischen Verfassung(2001, Koreanische Übersetzung 2005, deutsche Übersetzung 2006); Frieden und Gerechtigkeit in Palästina! (2002); in Deutschland: Rosa Luxemburg „Ich umarme Sie in großer Sehnsucht“. Briefe aus dem Gefängnis 1915-1918 (Bonn 1980, 1984, 1996); Japan und die friedliche Wiedervereinigung Koreas (Osnabrück 2002); Der Friedensartikel der japanischen Verfassung – Für eine Welt ohne Krieg und Militär (Münster 2006); mit Annelies Laschitza & Ottokar Luban (Hg.): Rosa Luxemburg. Ökonomische und historisch-politische Aspekte ihres Werkes (Berlin 2010); deutsch/englisch: Wegweiser zum Gedanken Rosa Luxemburgs / Guide to the Thought of Rosa Luxemburg (Tokio 2007). 2011 wurde ihm der „Literati Network Award for Excellence 2011“ verliehen, und zwar für seinen Aufsatz „Is the national question an aporia for humanity? How to read Rosa Luxemburg’s ‘The national question and autonomy’”, in: Research in Political Economy, 2011/vol. 26.

Seine große Lebensleistung besteht zum einen im Kampf um den Erhalt des Artikels 9 der japanischen Verfassung, in dem das Recht auf Kriegführung verboten wird, auch wenn die konservativen japanischen Regierungen die Wirkung des Artikels immer mehr ausgehöhlt haben, und zum anderen im intensiven Einsatz für die Verständigung mit Korea nach dem Ende der japanischen Kolonialherrschaft. Anlässlich des 100. Jahrestags der Annexion Koreas durch Japan organisierte Narihiko Ito 2010 einen großen Kongress in Tokio mit mehr als 1.000 TeilnehmerInnen. In den beiden Koreas gab es keine vergleichbare Veranstaltung. Eine jahrzehntelange Freundschaft verband ihn mit dem 2009 verstorbenen südkoreanischen Präsidenten Kim Dae-Jong, der die „Sonnenscheinpolitik“ initiiert hatte. Auch zu den chinesischen KollegInnen knüpfte er als Mitglied (seit 1986) des Steering Committee des jährlichen China-Japan Ziviltreffens für Frieden in Asien wie auch als Rosa-Luxemburg-Forscher wichtige Verbindungen für eine Versöhnung mit dem einst von Japan besetzten China.

Seine weitere bedeutende Lebensleistung liegt in seinen eigenen fundierten Rosa-Luxemburg-Arbeiten und den beständigen, intensiven Anregungen für die internationale Rosa-Luxemburg-Forschung durch das von ihm geleitete Wissenschaftler-Netzwerk, die Internationale Rosa-Luxemburg-Gesellschaft. So hat er noch in den letzten Jahren die internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenzen in Moskau (2011), Paris (2013) und Seoul (2015) initiiert und 2014 einen japanischen Tagungsband mit Referaten dieser internationalen wissenschaftlichen Tagungen herausgebracht. Trotz erheblicher gesundheitlicher Beeinträchtigung, vor allem seines Augenlichts, stand er zuletzt als Ehrenvorsitzender weiterhin mit der Internationalen Rosa-Luxemburg-Gesellschaft in Verbindung. Auch auf Grund all dieser Impulse ist in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Aufsätzen, Monographien, Editionen und Konferenzbänden zum Thema Rosa Luxemburg in vielen Teilen der Welt erschienen: in Argentinien, Brasilien, China, Japan, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Indien, (Süd-)Korea, USA [siehe: site “Weitere Publikationen”).

Wichtig sind hier vor allem die Ergänzungsbände mit bisher nicht bekannten Werken Rosa Luxemburgs, die von Annelies Laschitza und Eckhard Müller (2 Bde. mit je ca. 900 S,) bzw. - die übersetzten polnischen Arbeiten – von Holger Politt ediert werden. Von großer Bedeutung für die internationale Rosa-Luxemburg-Forschung ist das englischsprachige Projekt „Complete Works of Rosa Luxemburg“, von dem bereits zwei Bände in der Hauptherausgeberschaft von Peter Hudis erschienen sind, sowie das Vorhaben einer chinesischen (!) Edition der kompletten Werke. Auch in Frankreich wird nach bereits drei erschienenen Bänden an einer kompletten Ausgabe von Luxemburgs Werk gearbeitet. 

Prof. Narihiko Ito hat als wichtiger Impulsgeber dazu beigetragen hat, dass Rosa Luxemburgs Ideen nicht nur lebendig geblieben sind, sondern auch international eine weite Verbreitung erfahren haben. Seine mit ihm befreundeten Kolleginnen und Kollegen in aller Welt werden sein Vermächtnis wahren und in seinem Sinne weiterarbeiten.

Verfasser: György Széll mit Ergänzungen von Ottokar Luban

 

[English version on the site “English”]

Prof. Dr. Feliks Tych (1929-2015)

Historiker der polnischen Arbeiterbewegung und
 bedeutender Rosa-Luxemburg-Forscher
Holger Politt

Am 16. Februar 2015 starb in Warschau Feliks Tych. Ohne sein Wirken stünde die weltweite Rosa-Luxemburg-Forschung – zumindest was ihren polnischen Teil betrifft – noch in den Kinderschuhen. Dabei galt sein hauptsächliches Interesse weniger der Person von Rosa Luxemburg allein, vielmehr richtete es sich auf die komplexen und schwieriger zu verstehenden Zusammenhänge mit der polnischen Arbeiterbewegung als Ganzes. Allerdings hinterlässt der Historiker so etwas wie ein unvollendetes Werk, das aber besticht durch die vielen herausragenden Leistungen, ohne die eine sinnvolle Beschäftigung mit dem Wirken Rosa Luxemburgs heute kaum vorstellbar wäre. Auf einige Aspekte sei nachstehend verwiesen.

1) Der junge Historiker promovierte 1955 in Moskau mit einer Arbeit zur SDKPiL (Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens), die sich insbesondere auf die in der sowjetischen Hauptstadt befindlichen umfangreichen Archivmaterialien stützte. Neben Leo Jogiches, Julian Marchlewski und Adolf Warski war Rosa Luxemburg mit dem Gründungsvorgang und der weiteren Entwicklung der sozialdemokratischen Partei in dem seit 1815 zum Russischen Reich gehörenden Königreich Polen eng verbunden. Als Feliks Tych wenig später, und wiederum in einem Moskauer Archiv, auf nahezu 1.000 Briefe Rosa Luxemburgs an Leo Jogiches stieß, die .sie in der Zeit von 1893 bis 1914 meistens in Polnisch geschrieben hatte, konnte für die weltweite Rosa-Luxemburg-Forschung eine völlig neue Grundlage gelegt werden.

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Ab 1961 begann Feliks Tych in der Zeitschrift „Z pola walki“ (Vom Kampffeld) ein breiteres Fachpublikum mit diesen Briefen bekannt zu machen. Von 1968 bis 1971 wurden dann alle bis dahin bekannten und aufgefundenen Briefe Rosa Luxemburgs an Leo Jogiches von ihm in einer dreibändigen Buchausgabe herausgegeben. Der umfangreiche Apparat in diesen Bänden bildet seither eine unentbehrliche Grundlage für die Luxemburg-Forschung, besonders aber für den wichtigen Teil, der sich auf die enge politische und inhaltliche Zusammenarbeit mit Leo Jogiches bezieht. Auch die in der DDR im Dietz-Verlag ab 1982 besorgte sechsbändige Ausgabe von „Gesammelten Briefen“ (GB) Rosa Luxemburgs stützt sich bei den Briefen an Leo Jogiches meistens auf die Arbeitsergebnisse von Feliks Tych. Die beiden Herausgeber Annelies Laschitza und Günter Radczun schrieben dazu: „Feliks Tych hat seine Ausgabe mit umfangreichen, ins Detail gehenden Anmerkungen versehen. Seine Forschungsergebnisse, die die polnische Arbeiterbewegung und die Identifikation der oft unter Pseudonym in ihr wirkenden Personen betreffen, waren für die vorliegende Herausgabe der Briefe Rosa Luxemburgs an Leo Jogiches eine sehr wertvolle Hilfe.“ (Gesammelte Briefe, Bd. 1, S. 48⃰)

2) Bis heute sind zwei mehrbändige Dokumentensammlungen unerlässliche Hilfsmittel, um Ordnung ins Labyrinth der komplizierten Parteibeziehungen in der polnischen Arbeiterbewegung zu bringen. Zunächst erschienen von 1957 bis 1962 Dokumente zur Geschichte der SDKPiL aus der Zeit zwischen 1893 und 1903, also aus der Gründungsphase und aus der Zeit des ersten Versuchs, sich der russischen sozialdemokratischen Bewegung organisatorisch anzuschließen. 1962 wurden Dokumente zur Parteigeschichte der PPS-Lewica herausgegeben, die 1906 nach der Spaltung der PPS (Polnische Sozialistische Partei) durch den größeren Teil der Mitgliedschaft gegründet wurde und im Dezember 1918 zusammen mit der SDKPiL in die neugegründete Kommunistische Partei in Polen aufging (zunächst KPRP, später KPP). Diese Dokumente sind insofern für die Rosa-Luxemburg-Forschung von besonderer Bedeutung, weil Rosa Luxemburg in den Jahren 1908/09 in mehreren grundlegenden Beiträgen der PPS-Lewica vorhielt, nicht konsequent auf sozialdemokratische Positionen übergegangen zu sein, was eine organisatorische Vereinigung unmöglich mache.
In diesem Zusammenhang sei auch darauf verwiesen, dass Feliks Tych entscheidenden Anteil hatte an der kommentierten Publikation aller Parteiprogramme der polnischen Arbeiterbewegung bis 1918. Erst diese komplette Übersicht machte es z. B. möglich, den Stellenwert der von Rosa Luxemburg maßgeblich mit- oder überhaupt geschriebenen programmatischen Texte aus den Jahren 1893/1894 bzw. 1904/1905 bemessen zu können.

3) Maßgeblich beteiligt war Feliks Tych 1984 an der Herausgabe von über 800 Briefen von Kazimierz Kelles-Krauz aus den Jahren 1890 bis 1905. Kelles-Krauz war einer der führenden Köpfe in der PPS und ein ausgezeichneter Kenner der Schriften von Marx und Engels. Er verteidigte das Programm der PPS von 1892 als ein Klassenprogramm der Arbeiterbewegung, womit er sich also entschieden auf den Standpunkt stellte, dass das Erreichen der staatlichen Unabhängigkeit Polens darin eingeschlossen sei. Wenn Rosa Luxemburg nach 1893 vehement gegen den Sozialpatriotismus polemisierte, dann meinte sie vorzugsweise den marxistisch beschlagenen Kelles-Krauz, ohne ihn indes immer zu erwähnen. Rosa Luxemburg hielt Polens Unabhängigkeit für ausgeschlossen, u. a. weil sie ahnte, dass diese nur zum Preis eines Krieges zwischen den Teilungsmächten zu haben sei, der dann als Erster Weltkrieg tatsächlich ausbrach.

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Um Rosa Luxemburgs Auffassung zur polnischen Frage zu begreifen, braucht es zumindest der genauen Kenntnis des Gegenpols innerhalb der polnischen Arbeiterbewegung. Die Briefsammlung von Kelles-Krauz ist dafür ein unentbehrliches Hilfsmittel, auch deshalb, weil die Quellenbezüge und –verweise einen breiten Kontext aufschließen.
4)Von 1973 bis 1988 wurden unter Feliks Tychs Leitung insgesamt elf Bände eines „Archivs der Arbeiterbewegung“ herausgegeben, in denen bisher nicht publizierte Dokumente zur Geschichte der polnischen Arbeiterbewegung aus Archivbeständen Polens und der Sowjetunion veröffentlicht wurden. Im ersten Band wurde u. a. ein von Rosa Luxemburg 1902 in Russisch geschriebenes und unvollendet gebliebenes Manuskript über die gegenseitigen Beziehungen zwischen der polnischen und russischen Arbeiterbewegung abgedruckt, das im Hinblick auf den beabsichtigten Beitritt der SDKPiL zur SDAPR (Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei) auf dem 2. Parteitag der SDAPR im Sommer 1903 angefangen wurde. Dieses bis dahin unbekannte Dokument, welches in Moskauer Archivbeständen aufgefunden wurde, ist auch deshalb bedeutsam, weil Rosa Luxemburg im Sommer 1903 sich wiederum entschieden gegen einen Beitritt zur russischen Partei aussprach. Einen Schlüssel zum Verständnis dieser Situation findet sich in Rosa Luxemburgs wichtiger Arbeit „Nationalitätenfrage und Autonomie“ aus dem Jahre 1908/09.
5)Im Jahre 1978 wurde unter der Leitung von Feliks Tych mit der Herausgabe eines Biographischen Wörterbuchs der polnischen Arbeiterbewegung begonnen. 1992 erschien mit dem Buchstaben K der bislang letzte Band. Die Grundlinien des Wörterbuchs sind die Gleichbehandlung aller Richtungen innerhalb der polnischen Arbeiterbewegung und die vollständige Angabe der zur Verfügung stehenden wichtigen Lebensdaten. Damit wurde erstmals im sowjetischen Einflussbereich in einem größeren biographischen Umfang offiziell und detailliert auf die unbeschreiblichen Verbrechen der Stalinzeit verwiesen, die auch vor den Vertretern der polnischen kommunistischen Bewegung nicht Halt machte. Um einen guten Vergleich zu ermöglichen, sei darauf verwiesen, dass die Ausgabe der „Gesammelten Briefe“ von Rosa Luxemburg, die ab 1982 in der DDR erfolgte, immer noch eines guten Tricks bedurfte: „Zu allen Personen gibt es im Register biographische Angaben für die Zeit bis zur Ermordung Rosa Luxemburgs im Januar 1919.“ (GB, Bd. 1., S. 54 ⃰ )

6)Anfang 1989 stellte Feliks Tych die Druckvorlage zusammen für über 800 Briefe Julian Marchlewskis. Zum Druck kam es nicht mehr, weil die politischen Ereignisse dazwischenkamen, die sich in Polen ab Februar 1989 geradezu überschlugen. Nach 1990 war unter marktwirtschaftlichen Bedingungen an eine Herausgabe dieser Arbeit nicht mehr zu denken. Die Warschauer Allee mit dem Namen Julian Marchlewskis bekam nun den Namen von Papst Johannes Paul II., ersterer wurde zur geschichtlichen Unperson, nach der kein Hahn mehr krähen sollte. Ausschlaggebend war Marchlewskis Entscheidung, sich im Sommer 1920 an der Seite der Roten Armee aktiv für ein Sowjetpolen einzusetzen.
7)Ab 1992 begann Feliks Tych mit intensiven Arbeiten zu einer ausführlichen Biographie von Leo Jogiches, dem langjährigen Liebes- und Lebenspartner Rosa Luxemburgs, der auch nach der persönlichen Trennung 1907 ihr engster politischer Partner blieb und der im März 1919 in Berlin-Moabit brutal ermordet wurde. Feliks Tych ging es bei diesen Arbeiten auch darum, den hohen oder herausragenden Anteil am politischen und wissenschaftlichen Werdegang Rosa Luxemburgs kenntlich zu machen. Wie kaum ein anderer in der polnischen Arbeiterbewegung zeichnete sich der aus Wilna (Vilnius) stammende Jogiches durch genaue Kenntnis der russischen Bewegung aus. Das spielte eine ganz wichtige Rolle in der sensiblen Frage des Verhältnisses der SDKPiL zum Fraktionskampf zwischen Menschewiki und Bolschewiki in der SDAPR. Später warnte Jogiches im Dezember 1918 vor der Bezeichnung Kommunistische Partei, weil damit einer Identifizierung mit der Bolschewiki Tür und Tor geöffnet werde.
Der berufliche Werdegang verhinderte, dass Feliks Tych seine begonnenen Arbeiten zur Jogiches-Biographie fortsetzen konnte. Von 1995 bis 2006 war er Direktor des renommierten Jüdischen Historischen Instituts zu Warschau.


Dieser Artikel wurde mit freundlicher Genehmigung des Autors Dr. Holger Politt und von Dr. Evelin Wittich von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, auf deren Website die Erstveröffentlichung steht, abgedruckt.

Feliks Tych hat der ITH (“International Conference of Labor and Social History”) in Linz (Österreich) wesentliche Impulse gegeben und sich dort in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts weit vor “Perestroika” und “Wende” als “Brückenbauer” zwischen den Ost- und Westhistorikerinnen(historikern) betätigt, eine in der Zeit des “Kalten Krieges” schwierige Aufgabe. Im gleichen Sinne wirkte er seit Anbeginn in der “Internationalen Rosa-Luxemburg-Gesellschaft”, sowohl als mehrfacher Referent wie als Organisator der Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz 1996 in Warschau. Die zwei Fotos stammen von den Konferenzen der Internationalen Rosa-Luxemburg-Gesellschaft in Zürich (2000) und Bochum (2002).
Siehe dazu:
- www.internationale-rosa-luxemburg-gesellschaft.de/html/english.html
- http://www.internationale-rosa-luxemburg-gesellschaft.de/html/francais.html
- ITH Linz:
www.ith.or.at/mix/tych.htm  
-
United Kingdom
: https://rosaluxemburgblog.wordpress.com/2015/03/09/feliks-tych/ ; https://rosaluxemburgblog.wordpress.com/2015/05/31/prof-dr-feliks-tych-1929-2015-obituary-by-ottokar-luban/ 
- Kanada:
http://www.socialistproject.ca/?c2=2 ; http://www.socialistproject.ca/inthenews/FeliksTych.pd
- Russland (auf Russisch): www.praxiscenter.ru/issledovaniya/istoriya/
- USA: http://www.internationalmarxisthumanist.org/articles/in-memoriam-feliks-tych-1929-2015-an-outstanding-rosa-luxemburg-researcher-and-historian-of-the-european-labor-movement-and-post-holocaust

Weitere Nachrufe mit Betonung seiner bedeutenden Forschungen zur jüngsten jüdischen Geschichte: :

- “Jüdische Allgemeine” http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/21553

- Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin: https://www.tu-berlin.de/fileadmin/i65/Dokumente/Nachruf_Feliks_Tych.pdf

 

Prof. Dr. Jakow S. Drabkin (1918 – 2015)

Ein großer russischer Historiker und

Kenner der deutschen und internationalen sozialistischen Bewegung

Im September 1998 lernte ich Prof. Dr. Jakow Drabkin auf der Tagung der Internationalen Rosa-Luxemburg-Gesellschaft an der Universität in Tampere, Finnland persönlich kennen. Seine Werke über die deutsche Novemberrevolution und die Weimarer Republik sowie über die „Vier Aufrechten“ Rosa Luxemburg, Clara Zetkin, Karl Liebknecht und Franz Mehring waren mir wohl bekannt. Im Gespräch über Möglichkeiten von Archivrecherchen in Moskau gab er sich sehr kollegial, ohne jede Spur von Herablassung und Überlegenheit. Viele Gespräche mit einem bereichernden Gedankenaustausch schlossen sich im Laufe der Jahre bis in die jüngste Zeit an, ob am Rande von Konferenzen oder bei wechselseitigen Besuchen in Moskau oder Berlin.

Drabkin

Für die Internationale Rosa-Luxemburg-Gesellschaft war Jakow S. Drabkin mit seinen fundierten Referaten und seinen den Punkt treffenden Diskussionsbeiträgen ein wichtiger Tagungsteilnehmer und Autor mit seinen Beiträgen für die Konferenzbände der wissenschaftlichen Vereinigung. Wenn er sich für eine Sache ganz besonders engagierte, konnte er auf den Tagungen sehr temperamentvoll werden, bewahrte dabei immer seinen Humor und seine sachliche Haltung.Er war der russische Nestor der deutschen Revolutionsgeschichte 1918/19 und der Rosa-Luxemburg-Forschung. Seine beiden Monographien zum einen über “Die Novemberrevolution 1918 in Deutschland” (Berlin [Ost] 1968) und zum anderen

über “Die Entstehung der Weimarer Republik” (Berlin [Ost] 1983) werden wegen ihrer breiten Quellenbasis und scharfen Analyse als Standardwerk bis in die jüngste Zeit international hoch geschätzt und vielfach zitiert.

Auf der Basis der reichhaltigen Quellen verfasste er ein bewusst romanhaft, aber faktentreu geschriebenes Buch über die Mitglieder der Spartakusführung im Ersten Weltkrieg und in der Revolution 1918/19 “Die Aufrechten: Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Franz Mehring, Clara Zetkin” (Berlin [Ost] 1988). Darin gelang es ihm, mit viel psychologischem Einfühlungsvermögen diese linkssozialistischen politischen Persönlichkeiten den Leserinnen und Lesern menschlich und politisch nahe zu bringen. Damit hat er in der Sowjetunion und in der DDR viel zur Popularisierung der “Vier Aufrechten” beigetragen.

Jakow Drabkin kommt auch das große Verdienst zu, durch eine Publikation im Jahre 1990 in Moskau Rosa Luxemburgs Manuskript über die russische Revolution vom September/Oktober 1918 der Öffentlichkeit in Russland zur Kenntnis gebracht zu haben. Im Februar 2004 organisierte er die erste Rosa-Luxemburg-Konferenz in Moskau. Anlässlich seines 90. Geburtstages im Jahre 2008 veranstaltete die Russische Akademie der Wissenschaften ihm zu Ehren eine wissenschaftliche Tagung mit internationaler Beteiligung (M. B. Korcagina, V.L. Telicyn (Hg.): Germanija i Rossija v sud’be istorika. Sbornik statej, posvjascennyj 90-letiju Ja. S. Drabkina, Moskva, Sobranije, 2008).

Nach Überwindung vieler Schwierigkeiten gelang es ihm auch, 2002 in Moskau einen Band über das Wirken Lew Kopelews und dessen großem kulturhistorischem Werk , das “Wuppertaler Projekt” über die Geschichte deutsch-russischer Fremdenbilder (siehe: http://www.kopelew-forum.de/das-wuppertaler-projekt.aspx), zu veröffentlichen. Ihn verband mit Lew Kopelew, der 1981 vom Breshnew-Regime ausgebürgert worden war, eine lebenslange Freundschaft. Beide waren im Weltkrieg zusammen in einem sowjetischen Truppenteil an der russischen Westfront eingesetzt. Nach Kriegsende war Jakow Drabkin als Kulturoffizier der Sowjetischen Militäradministration tätig. Als Absolvent einer deutschen Schule in Kiew und profunder Kenner der deutschen Kultur, vor allem der Literatur, war er dafür prädestiniert.

Die deutsche Geschichte bildete sowohl während seines Studiums wie während seiner Forschungstätigkeit den Schwerpunkt seines Interesses, wie die bereits genannten Werke zeigen. Als Leiter des Forschungszentrums für deutsche Geschichte am Institut für allgemeine Geschichte der Akademie der Wissenschaften der Russischen Föderation und Mitglied der Gemeinsamen Kommission fur die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen („Deutsch-russische Historikerkommission“) war er an wichtigen Forschungs- und Publikationsvorhaben beteiligt. So gab er mit einer russischsprachigen Dokumentation von Komintern-Dokumenten (Jakov S. Drabkin, Leonid Babičenko; Kirill K.Širinja [Hrsg.]: Komintern i Ideja Mirovoj Revoljucii. Dokumenty, Moskva, „NAUKA“, 1998) den Anstoß zu seinem letzten großen Gemeinschaftswerk Deutschland, Russland, Komintern. (1918-1943), hrsg. von Hermann Weber, Jakov Drabkin, Bernhard H. Bayerlein , 3 Bände, Walter de Gruyter Verlag Berlin/München/Boston 2014 und 2015 (http://www.degruyter.com/viewbooktoc/product/186108 und http://www.degruyter.com/view/product/212875). Dieses monumentale Gemeinschaftsprojekt von russischen und deutschen Historikern bildet den krönenden Abschluss eines eindrucksvollen wissenschaftlichen Lebenswerkes.

Jakow Drabkin verstarb im Alter von 97 Jahren am 10. Oktober 2015 in Moskau. 

 Text: Ottokar Luban

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Die Stärksten kämpfen ein Leben lang

Prof. Dr. Theodor Bergmann (1916 – 2017)

Je älter er wurde, desto unwahrscheinlicher schien es, dass ihn je der Tod ereilen könnte. Noch lange nach seinem 100. Geburtstag war Theodor Bergmann, Agrarwissenschaftler und später Historiker der Arbeiterbewegung, unermüdlich als Vortragsreisender unterwegs, verfasste ein Buch nach dem anderen. Er sprühte vor Vitalität, Kreativität und Gedankenreichtum. Vor Kurzem erschien von ihm noch die Studie »Der chinesische Weg. Versuch, eine ferne Entwicklung zu verstehen«. Es sollte sein letztes Werk sein: Am Abend des 12. Juni ist Theodor Bergmann in seiner Wahlheimat Stuttgart im 102. Lebensjahr gestorben. Mit seinem Tod bricht die personelle Verbindung zur Arbeiterbewegung der Weimarer Republik ab, deren letzter Akteur und Zeitzeuge er war.

Geboren am 7. März 1916 in Berlin in der vielköpfigen Familie eines Rabbiners, stieß er 1929 zur kommunistischen Bewegung. Er schloss sich der Stalin-kritischen KPD-Opposition (KPO) um Heinrich Brandler und August Thalheimer an. Dieser politischen Entscheidung ist er ein sehr langes Leben lang treu geblieben. Er suchte und stritt für eine Welt, in der Freiheit und soziale Gerechtigkeit sich verbinden. Dies war für ihn Sozialismus - das Einfache, das so unendlich schwer zu machen ist, wie er wusste.

1933 musste der Siebzehnjährige ins Exil fliehen - Palästina, die Tschechoslowakei und Schweden waren die Stationen seiner Odyssee. Das Leben war hart und oft gefahrvoll, zweimal entkam Theodor Bergmann den Nazihäschern nur knapp. 1946 kehrte er nach Westdeutschland zurück. Das stalinistische Ostdeutschland war für ihn keine Alternative. Politisch fand Theo Bergmann in der Gruppe »Arbeiterpolitik« Halt, privat bei seiner Genossin Gretel Steinhilber, die ebenfalls aus der KPO kam. In seiner Autobiografie »Im Jahrhundert der Katastrophen«, die zu seinem 100. Geburtstag überarbeitet neu herauskam (VSA-Verlag, 22,80 €), beschrieb er in knappen Worten seinen steinigen Weg vom Landarbeiter und Hebräischlehrer bis zum Fachgebietsleiter für International vergleichende Agrarpolitik an der Universität Stuttgart-Hohenheim - und wie viele, nazistisch belastete »Kollegen« ihm die spät erreichte akademische Laufbahn zu verbauen suchten. Erst 1973 erhielt der Kommunist in der Bundesrepublik eine Professur. Mit immenser Arbeitsenergie, strikter Disziplin und einem unverwüstlichen Optimismus, den er sich bis zuletzt bewahrte, hatte sich Theo Bergmann durchgesetzt. Uneigennützig half er unter politischen Repressalien leidenden Studenten, auch dann, wenn er mit ihren Ansichten nicht übereinstimmte. Winfried Kretschmann, der heutige Ministerpräsident von Baden-Württemberg, und Jörg Hoffmann, heute Vorsitzender der IG Metall, haben vor allem ihm ihren Verbleib an der Universität Stuttgart-Hohenheim zu verdanken, als andere Professoren die damals ultralinken Studenten exmatrikulieren wollten. Sie dankten es ihm weniger als seine treuen Schüler wie Helmut Arnold, Joachim Herbold und Karl Burgmaier, die ihm bis zuletzt zur Seite standen.

Über sechzig Bücher sowie Hunderte Aufsätze, die auf allen fünf Kontinenten erschienen, zeugen von seiner schier unglaublichen Schaffenskraft. Sein beeindruckendes Wissen teilte er unaufdringlich, nie schulmeisterlich mit. Er war ein wahrer sozialistischer Weltbürger: Theo Bergmann schrieb und dolmetschte in fünf Sprachen, las ein halbes Dutzend weitere. Auf eigene Kosten reiste er siebzehn Mal nach China. Noch öfter bereiste er Israel, mehrmals Indien, Pakistan und viele weitere Länder - um »Entwicklungen zu verstehen«.

Theodor Bergmanns Arbeitsgebiete in Forschung und Lehre waren vor allem landwirtschaftliche Entwicklungsmodelle und das Genossenschaftswesen in verschiedenen Ländern. Studenten und Doktoranden berichten noch heute voller Zuneigung und Bewunderung von seiner Hilfsbereitschaft, seinem großen Fachwissen und seiner enormen humanistischen Bildung, um die er wenig Worte machte, aber auch von seinen hohen Anforderungen, die er stellte - die höchsten an sich selbst.

Immer mehr wurde die Geschichte und Politik der Arbeiterbewegung zu seinem Hauptthema, vor allem als Professor im (Un-)Ruhestand. Seine Geschichte der KPO, »Gegen den Strom«, gilt als ein Standardwerk. Doch auch zur Geschichte der Komintern, zum Spanienkrieg, zum israelisch-arabischen Konflikt lieferte er quellengestützte Werke. Er war mit seinem Kollegen und Freund Gert Schäfer Initiator einer Reihe internationaler Konferenzen zur Geschichte und zu aktuellen Problemen der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung sowie von Tagungen z. B. über Karl Marx und August Thalheimer, Trotzki, Bucharin, Lenin und Friedrich Engels. In Wort und Tat unterstützte er die Arbeit der Internationalen Rosa-Luxemburg-Gesellschaft durch eigene Vorträge, als Mitherausgeber mehrerer Konferenzbände, als Übersetzer von Beiträgen und als Unterstützer des wichtigen internationalen Kongresses der Internationalen Rosa-Luxemburg-Gesellschaft in Guangzhou/Canton 2004 mit einer von ihm organisierten erlebnisreichen Informationsreise durch die chinesische Provinz.

Theodor Bergmann verstand sich als kritischer Kommunist, und so nimmt es nicht Wunder, dass die SED seine Bücher zur Konterbande erklärte. Dennoch war es für ihn selbstverständlich, den ab 1990 »abgewickelten« DDR-Wissenschaftlern zur Seite zu stehen, selbst wenn sie ihn zuvor einen »Revisionisten« und »Renegaten« geschimpft hatten. Er trat der PDS bei, leitete zeitweise deren Landesverband Baden-Württemberg und war bis zum Lebensende in der politischen Bildungsarbeit aktiv.

Theodor Bergmann hielt es mit Bertolt Brecht: »Die Schwachen kämpfen nicht. Die Stärkeren kämpfen vielleicht eine Stunde lang. Die noch stärker sind, kämpfen viele Jahre. Aber die Stärksten kämpfen ihr Leben lang. Diese sind unentbehrlich. « Theo hielt sich nie für unentbehrlich. Und doch war er es. Er wird uns fehlen.

Text: Mario Keßler – Erstveröffentlichung in : Neues Deutschland, 14. Juni 2017.

Mit späteren Ergänzungen von Ottokar Luban

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